Die sieben Prußen
Eine prußische Geschichte
von Heinz Georg Podehl
(Quelle: Prußische Geschichten Husum 1983 S. 67-73)
Sie waren erst zwei Nächte unterwegs gewesen und hatten
noch etliche zu reiten. Keine leichte Sache in jenem Winter, zumal
große Kälte herrschte. Der Schnee lag sehr hoch, und
Wind und Sturm taten ein übriges. Auch durften sie nur nachts
reiten und mußten sich tagsüber in den Wäldern
verborgen halten.
Aufgebrochen waren sie in Warmien. Von dort aus hatten sie Umwege
gemacht, einen großen Bogen geschlagen, östlich durch
Pogesanien und um Barten herum. Dann wollten sie weiter, durch
Galinden und Nadrauen, bis zum Samland, zur Burg in Königsberg,
die sie von Norden kommend zu erreichen hofften.
“Hier stehen die Kiefern und Fichten dicht beieinander«,
rief einer der Reiter. »Der Tag bricht schon an, laßt
uns ein Lager machen!« Es war Spartis, der Starke, der gerufen
hatte. Und seine Stimme hatte Mühe, die vom Himmel fallenden
Schneewände zu durchdringen.
Die kleinen Prußenpferde schnauften, bliesen ihre Nüstern
vom Reif frei und schüttelten ihre langen Mähnen, als
man sie dicht bei dicht an die Bäume koppelte, unter deren
tiefhängenden Zweigen sie Schutz fanden. Auch die sieben
Reiter schlugen sich den Schnee von den dicken Pelzen und neben
sich vorsichtig die Augen und Nasenlöcher frei. Dann, als
der Reif, der sie so greisenhaft hatte aussehen lassen, aus ihren
Gesichtern entfernt war, war zu erkennen, wie jung sie noch alle
waren. Spartis, der Anführer der kleinen Schar, zählte
ganze siebzehn Jahre, die anderen noch weniger. Der schmale, sommersprossige
Landos, der Jüngste, war erst vierzehn.
Zu frieren brauchten sie nicht. Denn bevor sie zu dieser Reise
aufbrachen, hatte Milade, die alte Mutter ihres Herzogs Glappe,
aus vielerlei geheimnisvollen Kräutern ein heißes Bad
herrichten lassen, und einer nach dem anderen hatte in den Zuber
steigen müssen, um darin zu baden. Danach standen alle sieben
nackt am offenen Kaminfeuer, um sich langsam trocknen zu lassen.
»Damit die Kraft der Kräuter tief in die Haut eindringen
kann«, hatte Milade gesagt. »So werdet ihr nicht frieren,
meine maldai, meine Jungen, und die Reise gut überstehen.
Es ist ein guter Zauber, ähnlich der Salbe für unsere
Toten beim Zarm!«
Nein, sie froren wirklich nicht, auch die Pelzmäntel und
Fellmützen, die gefütterten Stiefel und Fäustlinge
hielten ihre Körper warm.
»Landos, nimm dem Packpferd die Last und auch die Strohpuppe
ab und gib jedem Pferd eine Handvoll Heu und auch einige Hände
voll Körner”, sagte Spartis. ,,Eßt etwas von
den Vorräten und legt euch schlafen. Metas und Medos, ihr
übernehmt die zweite Wache und Undos mit Clattos die dritte.
Pintas und ich werden als erste wachen.«
Landos wollte widersprechen, weil er nicht eingeteilt worden
war, wie gestern schon. Aber Spartis meinte: ,,Du hast nachts
während des Ritts genug mit dem Packpferd zu schaffen. Also
sei friedlich, Kleiner!«
Der Junge murrte noch ein wenig, blieb aber dann ruhig.
Ein Feuer wollten sie nicht machen, denn sie mußten unentdeckt
bleiben. Es gab in dieser schweren Zeit auch in den Wäldern
manchmal Prußen, denen vielleicht nicht zu trauen war. Spartis
hüllte sich fester in seinen Pelz und gab seinen Gedanken
Raum.
Die Christen schrieben das Jahr 1273; der große Freiheitskampf
der Prusai gegen die Weißmäntel aus dem Westen war
verloren, und die prußischen Heerführer, die einst
in Magdeburg von ihren Feinden selbst westliches Wissen und die
Kampftechnik der Ritter erlernt hatten, waren alle tot. Meist
durch Verrat und auf schändliche Weise umgekommen. Viele
Prusai, gerade die stolzesten und furchtlosesten Freiheitskämpfer,
waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten oder auch nach Sudauen
und Schalauen entwichen. Nur Milade, die Mutter des Glappe, und
Nobute und Bonike, seine beiden Frauen, waren in Warmien geblieben.
Und sie, die sieben jungen Reiter, waren begeistert gewesen von
dem Plan der Milade, und sie waren es noch, trotz der Mühsal
des Ritts und nicht wissend, was auf sie zukommen wurde. Das Unternehmen,
das sie nun ausführten, würde eine große Tat sein.
Spartis erhob sich. Die Zeit der ersten Wache war um, die nächsten
mußten geweckt werden.
Beim ersten Dämmerlicht des neuen Abends brachen sie auf
und ritten weiter durch den tiefen Schnee, der den Rössern
fast bis zu den Bäuchen reichte. Der Sturm hatte immer noch
nicht nachgelassen, was ihr Vorhaben begünstigte. Er heulte
in den Wipfeln der Bäume und schüttelte ihre gespeicherten
Schnee-massen auf die einsamen Reiter herunter. “Bleibt
dicht beieinander”, rief Pintas, der der Wegekundigste unter
ihnen war, in den sausenden Wind, “wir dürfen uns nicht
verlieren!”
“Und beim nächsten offenen Wasser tränken wir
die Rösser!” rief Landos, der für die Pferde verantwortlich
war, vom Schluß des kleinen Trupps.
So ging es weiter, meist nur sehr langsam, durch dichte Wälder,
über zugefrorene Moore und glitzernde Eisflächen. Ihre
Vorräte nahmen ab, sie mußten sich bald nach neuen
umsehen.
Gegen Morgen fanden sie am Rande eines Feldes ein einsames Gehöft,
in dem ein Licht brannte. Sie hielten an, und Pintas schlich sich
an das kleine Haupthaus heran, um die Bewohner auszuspähen.
Aber bald winkte er die anderen zu sich. Sie ritten zu dem Haus
und traten ein. Es gab dort nur einen alten Mann, der sie willkommen
hieß. Auch habe er genügend Vorräte an Eßbarem,
auch für die Rösser, von denen er den jungen Reitern
gern etwas abgeben wollte, und bat sie sogar, in seinem Hause
die nächste Nacht abzuwarten. So konnten auch die Pferde
einen guten Tag in einem warmen Stall verbringen, nachdem sie
versorgt worden waren. Natürlich wurden auch wieder Wachen
aufgestellt.
Am Abend ritten sie gut ausgeschlafen weiter durch Nadrauen,
Über die Hälfte des Hinwegs war getan, und bald würden
sie den großen Fluß Skarre, andere nannten ihn Pregel,
erreicht haben und überqueren müssen. Dafür brauchten
sie all ihre Kräfte, und um die zu sammeln, war die Rast
in dem Hause des Alten am vergangenen Tag gerade richtig gewesen.
Metas, der neben seinem Freund Medos ritt, sagte: »Bist
du sicher, daß der alte Mann in Ordnung ist?«
“Aber ja doch”, sagte Medos, der genau wußte,
was sein Freund meinte. “Du hast es doch gehört: Er
bedankte sich bei uns und wollte von unserem Dank nichts wissen.
So spricht nur ein wahrer Prusai in diesem Lande und niemals ein
Christ, der nur seinen Vorteil sucht. Sei also beruhigt!”
An der Skarre angekommen, fand Undos zum Glück eine flache
Stelle im Flußbett, die fast zugefroren war.
»Hier können wir das jenseitige Ufer erreichen, ohne
schwimmen zu müssen«, sagte er. Es kam also nicht zum
Schlimmsten.
Aber da es Nacht war, gerieten sie doch öfter ins Wasser
und waren am Ende recht naß geworden. Doch ritten sie erst
einmal weiter, in den Schutz der nächsten Bäume. Dort
sagte Spartis:
,,Unsere alte Fürstin Milade hat uns ein Mittelchen mitgegeben,
von dem wir nur dreimal Gebrauch machen dürfen, und nur in
wirklichen Notfällen. Jetzt ist so eine Not, denn unsere
Beine sind steif vom gefrorenen Eiswasser, und wir dürfen
hier auf keinen Fall ein Feuer machen, um uns aufzutauen. «
Mit diesen Worten zog er aus seinem Pelz ein Beutelchen hervor,
das mit einem weißen Pulver gefüllt war. Mit dem bestreuten
sie sich gegenseitig die nassen Beinkleider. Dabei verringerte
sich das Pulver überhaupt nicht, sondern behielt seine Menge.
Aber das Eis und die Nässe waren im Nu verschwunden, und
froh zogen sie weiter.
Nördlich entlang der Skarre durch die Wälder war bald
das Samland erreicht, und das Ziel ihrer mühevollen Reise
rückte immer näher. Milade sollte ihren Sohn erhalten,
um ihn nach alter Sitte zu den Göttern senden zu können.
Ja, das sollte sie .
Als sie dann aus einem Wäldchen ins Freie reiten wollten,
sahen sie in der südlichen Ferne die morgendlichen Lichter
der Burg Königsberg blinken.
Landos blieb bei den Pferden in einem Waldversteck, die anderen
sechs legten Pelzmäntel und Mützen ab und hängten
sich weiße Tücher um, damit ihr Nahen auf der weiten
Schneefläche vor der Stadt nicht bemerkt werden konnte. Alle
nahmen aber ihre Messer mit. Clattos‘ der Kletterer, trug
außerdem die Seile. Metas, der Keulenwerfer, füllte
seinen Gürtel mit fünf kurzen, mit Blei beschwerten
Holzkeulen, und Medos‘ der Schütze, hängte sich
Köcher und Bogen auf den Rücken. Die mit einem langen
Hemd bekleidete Strohpuppe trug der sechzehnjährige Pintas.
So machten sie sich langsam und vorsichtig auf den Weg. Am Abend
waren sie vor der Stadt.
Jetzt begann der schwierigste Teil ihres Unternehmens: Glappe!
Wie ihn erreichen?
Sie wußten nur: sie mußten ihn finden. Dafür
war es noch nicht zu spät und es durfte auch nicht mißlingen;
denn der Land-meister Thierberg bevorzugte eben wegen seines Namens
Berge und Hügel für sein schlimmes Tun. Berge aber waren
in diesem Lande nicht gerade reich gesät, und in Königsberg
gab es nur einen, der hier in Frage kam. Dort würden sie
suchen müssen nach ihrem geliebten Herzog Carolus Glappe.
Den Erstnamen Carolus hatte man ihm auf der Moritzschule in Magdeburg
gegeben. Doch nach seiner Flucht zurück in die Heimat, zu
Anfang des Freiheitskampfes, hatte er ihn nicht mehr tragen wollen.
Ja, nach der Niederlage war auch Glappe in Gefangenschaft geraten.
Man hatte ihn sogleich nach Königsberg gebracht. Dort hatten
die christlichen Ritter ihn...
Spartis mochte nicht weiterdenken, so schauderte ihn diese ruchlose
Tat. Aber es war noch Zeit, das Allerschlimmste zu verhüten.
Denn Glappes Körper sollte, so hatten sie in Warmien erfahren,
eine Mondzeit lang zur Schau gestellt sein.
Langsam schlichen die sechs jungen Krieger weiter über
die ebene Fläche. Inzwischen war es Nacht geworden, blutrot
ging im Osten die runde Scheibe des Mondes auf. Das war schlecht
und auch gut: man würde sie leicht sehen können, aber
auch sie konnten sehen.
Da war die Stadtmauer! Man ging ans Werk. Die weißen Um-hänge
wurden abgelegt, und dann schleuderte Clattos einen kleinen Ankerhaken,
der an einem langen Seil hing, auf die höchste Stelle der
Mauer. Dort würde mit Sicherheit keine Bewachung sein. Der
Haken machte nur einmal klick und saß fest. Clattos kletterte
als erster hinauf und entrollte ein zweites Seil für die
andere Seite. Dann hangelten die anderen hoch und ließen
sich hinab in die Stadt. Undos stürzte dabei, aber er verbiß
den Schmerz. Zum Glück war nirgends ein Wächter zu entdecken.
Beklommen und aufs äußerste gespannt schlichen sie
nun durch die engen Gassen der unbekannten Stadt. Da — an
einer Straßenbiegung stand plötzlich ein Wächter,
wie aus dem Boden gewachsen! Spartis, der den anderen voranging,
handelte blitzschnell. Der Griff zum Messer hätte zu lange
gedauert, so schlug er mit der Faust zu und traf den Hals des
Kriegsknechtes. Der fiel mit einem leisen Seufzer zur Seite. Die
herbeispringenden Freunde fingen ihn auf, so konnten seine Waffen
beim Fall keinen Lärm machen. Sie legten ihn im Schatten
einer Hauswand ab und schlichen vorsichtig weiter.
Und dann sahen sie im Mondschein ihren Fürsten. Auf einer
Anhöhe, inmitten der Stadt, an Händen und Füßen
gefesselt, hing er hoch oben am Galgen, gehenkt.
Tränen des Zorns traten in ihre Augen. Sie wollten den
Berg hinaufstürmen, aber Spartis hielt sie zurück. Bei
dem Galgen standen zwei Wächter, die mußten zuerst
überwältigt werden. Schnell beriet man sich flüsternd.
Dann torkelte mit einmal jemand lallend, ein Betrunkener wohl,
aus dem Schatten heraus auf die Wächter zu.
“He”, rief der eine, “was suchst du...”
Aber da traf ihn schon Spartis Messer. Den andern traf, ehe er
recht zur Besinnung kam, eine Wurfkeule hart am Stirnbein. Lautlos
brach er zusammen.
Jetzt hieß es schnell handeln. Geschwind erstieg Clattos
den Galgenbaum und schnitt den Leichnam des Herzogs vom Strick.
Die anderen fingen ihn auf und reichten die Strohpuppe hoch, die
Clattos nun am Galgen festband. So würde man den Austausch
nicht so bald bemerken. Außerdem sollte es eine kleine Rache
sein, denn die Strohpuppe würde den Herrn der Stadt zum Gespött
machen.
Dem toten Fürsten legten sie das weiße Stirnband
an und um-schlangen seinen Unterkiefer mit einem Tuchstreifen.
Die beiden Wächter richteten sie mit Hilfe ihrer Lanzen auf
und lehnten sie an den Galgenaufbau, so daß man denken konnte,
sie lebten noch.
In Eile trat man den Rückzug an und erreichte ohne Zwischenfälle
die Stadtmauer. Doch, o Schreck, dort nahm gerade ein Wächter
ihr Seil in Augenschein! Aber Medos‘ Pfeil schnellte von
der Sehne und traf den Mann, noch ehe er hätte Alarm schlagen
können.
Schnell war nun mit Glappe die Mauer überwunden, die Seile
entfernt, das Feld überquert und im Walde bei Landos Schutz
gefunden. Der erwartete sie schon in Sorge und ließ sich
berichten.
Den Leichnam des Fürsten, der von der Kälte steif
gefroren war, befreiten die jungen Krieger von seinen Fesseln,
entkleideten ihn und bestreuten ihn mit dem weißen Pulver.
Bald wurde er etwas beweglich und konnte mit Hilfe von Ästen
und Seilen auf dem Packpferd aufrecht befestigt werden.
Der Rückmarsch begann ohne weiteren Aufenthalt, und alles
ging wider Erwarten gut. Diesmal kamen sie trockenen Fußes
über die fest zugefrorene Skarre, und das Wunderpulver brauchte
nicht ein drittes Mal benützt zu werden.
Der alte Mann in Nadrauen, von stummer Ehrfurcht erfüllt
vor dem stolzen Toten, den sie mit sich führten, versorgte
sie auch jetzt wieder reichlich aus seinen Vorräten und sicherte
ihnen die Ruhe für einen tiefen Schlaf.
Im Lande Warmien, in das der tote Herzog Glappe hoch zu Roß
auf geheimen Wegen einkehrte, wurde er seiner Mutter übergeben.
Dann fand die Totenfeier statt nach altem Brauch und nach dem
Willen der Götter, zu denen die Seele des Ermordeten jetzt
ruhmvoll aufsteigen konnte. An einem verborgenen Platz wurde sein
Leichnam auf einen Holzstoß aus Birkenscheiten gelegt. Dann
fügte man Rauchpulver und getrocknete Blumen hinzu und verbrannte
den Fürsten nach alter prußischer Sitte zusammen mit
seinen beiden Frauen, die vorher den von der Mutter Milade gereichten
Todestrank lächelnd getrunken hatten. Sie hatten es so gewollt,
und das Gesetz der Prusai erlaubte es. Später zog die alte
Fürstin mit ihrem Gesinde und den sieben kühnen Reitern
nach Sudauen. Dort wurden die drei Urnen mit der Asche in einem
Hügelgrab beigesetzt.
Den weißen Rauch des Scheiterhaufens, in dem die Seele
des toten Helden zum dangon, dem Himmel, aufgestiegen war, hatte
der Wind als Wolke durch die Schneeluft mit sich genommen bis
nach Könisgberg, bis hin zum Galgenberg, wo sie noch lange
für viele sichtbar war. Dieser Hügel hieß im Volke
von nun an der Glappeberg.
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